Bentschen (Zbaszyn)


Bentschen (Zbaszyn) Polen

http://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/zwangsausweisung.html?page=1

Die Abschiebung polnischer Juden aus dem Deutschen Reich 1938/1939 und ihre Überlieferung

1. Die Zwangsausweisung nach Polen im Oktober 1938
2. Die Quellenlage bei der namentlichen Ermittlung der Betroffenen
3. Das Schicksal der nach Bentschen Abgeschobenen

Die Zwangsausweisung polnischer Juden aus dem Deutschen Reich Ende Oktober 1938 wird in der Literatur im Zusammenhang mit dem Pogrom gegen die Juden vom 9. und 10. November 1938, der „Reichskristallnacht“, erwähnt. Der polnische Jude Herschel Grünspan (Herszel Grynszpan) erschoss am 7. November 1938 in der deutschen Botschaft in Paris den Legationsrat Ernst Eduard vom Rath, um auf das Schicksal seiner während der sogenannten Polenaktion nach Bentschen (Zbaszyn) abgeschobenen Eltern aufmerksam zu machen. Die Nationalsozialisten griffen diese Tat auf und nutzten sie als propagandistischen Vorwand für die Novemberpogrome 1938.

Diese verkürzte Darstellung wird dem Ausmaß der Vorgänge im Oktober 1938 jedoch nicht gerecht. Um dem Ablauf der „Polenaktion“ selbst mehr Aufmerksamkeit zu widmen und das Schicksal der betroffenen Personen nachvollziehen zu können, ist es zunächst einmal unerlässlich, die Namen herauszufinden, die derzeit nicht einmal zur Hälfte überliefert sind, je nachdem, von wie vielen abgeschobenen Personen ausgegangen wird.

Das Bundesarchiv hat hierzu einen ersten Beitrag geleistet, der im Folgenden skizziert wird. Ein kurzer Blick auf die Vorgeschichte und den Ablauf der „Polenaktion“ erhellen die Schwierigkeiten und Hindernisse, die ursächlich dafür sind, dass sich bislang die Zahl der Betroffenen in einer Spanne von 12 000 bis 17 000 bewegt.[1]
Die Zwangsausweisung nach Polen im Oktober 1938

Mit der Annexion Österreichs am 12. März 1938 veränderte sich die Situation der im Reichsgebiet lebenden Juden entscheidend, da sie einen nachhaltigen Einfluss auf die Einwanderungspolitik vieler europäischer Staaten hatte. Nun, da Österreich nicht mehr als Zufluchtsort in Frage kommen konnte und gleichermaßen der nationalsozialistischen „Judenpolitik“ unterlag, befürchteten die Nachbarstaaten des Deutschen Reiches einen noch größeren Zustrom jüdischer Emigranten, wovor sie sich durch Verschärfung der Einreisebestimmungen schützen wollten. Anders jedoch als in der Schweiz, in Frankreich oder in Großbritannien richteten sich in Polen die Maßnahmen gegen eigene Staatsbürger, die sich außerhalb des Landes aufhielten.

So sah das am 31. März 1938 vom polnischen Parlament verabschiedete Gesetz die Möglichkeit vor, allen polnischen Staatsbürgern, die länger als fünf Jahre ununterbrochen im Ausland lebten, die Staatsbürgerschaft zu entziehen, da jene, so wurde argumentiert, ihre Verbindung zur polnischen Nation verloren hätten. Das betraf im Deutschen Reich schätzungsweise 30 000 und in Österreich zusätzliche 20 000 polnische Juden. Mit einem Erlass von Anfang Oktober 1938 sollte das genannte Gesetz umgesetzt werden. Die polnische Regierung wollte mit allen Mitteln einer Massenausweisung aus dem Deutschen Reich zuvorkommen und forderte nun jeden polnischen Bürger im Ausland auf, sich bei dem für ihn zuständigen Konsulat zu melden, um seinen Pass mit einem Kontrollvermerk versehen zu lassen. Tat er das nicht, sollte der polnische Pass mit dem 30. Oktober 1938 ungültig werden und sein somit staatenlos gewordener Besitzer verlor die Berechtigung zur Einreise nach Polen. Als der Erlass über die deutsche Botschaft in Warschau auch in Berlin bekannt wurde, erhielten kurz darauf tausende polnischer Juden im Deutschen Reich ab dem 27. Oktober 1938 einen Ausweisungsbefehl, wurden verhaftet und mit größter Eile entweder zu Fuß oder in Sammeltransporten über die polnische Grenze abgeschoben.

Da die Anordnung zur Zwangsausweisung der polnischen Juden nicht alle Reichsteile zeitgleich erreichte, variierte das Abschiebedatum je nach Wohnort zwischen dem 27., 28. oder 29. Oktober 1938. Ferner ließ der Erlass den Behörden vor Ort einen gewissen Interpretationsspielraum, so dass sich nicht nur die Art und Weise der Durchführung reichsweit unterschied, sondern auch die Entscheidung darüber, wem die Ausweisung drohte. Waren es in einer Stadt bzw. Region ganze Familien, die von der Polizei aus ihren Wohnungen geholt wurden, traf es andernorts nur die männlichen Mitglieder eines Haushaltes. Erreichte die Ausweisung einmal nur polnische Juden, die das 18. Lebensjahr vollendet hatten, so wurden an anderer Stelle auch Klein- und Kleinstkinder abgeschoben.

Ebenfalls abhängig vom Wohnort war der Grenzübergang, zu dem die von der „Polenaktion“ betroffenen polnischen Juden transportiert wurden. Entsprechend dem Streckenverlauf des deutschen Eisenbahnnetzes gelangten die Sammeltransporte vor allem an drei Grenzorte mit Bahnanschluss. Neben der bereits erwähnten Stadt Bentschen gingen größere Transporte nach Konitz (heute Chojnice) in Pommern und Beuthen (heute Bytom) in Oberschlesien.

Ein einheitliches Bild der Abschiebung lässt sich somit nicht entwerfen. Es wäre daher für die Zukunft um so wichtiger, den Ablauf und die Zahl der Betroffenen für jede Region im Einzelnen zu erforschen bzw. aufzuarbeiten.

* [1] Jerzy Tomaszewski, Auftakt zur Vernichtung. Die Vertreibung polnischer Juden aus Deutschland im Jahre 1938, (KLIO in Polen, 9), Osnabrück 2002 und Bettina Goldberg, Die Zwangsausweisung der polnischen Juden aus dem Deutschen Reich im Oktober 1938 und die Folgen, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 46 (1998), S. 971-984.

Die Abschiebung polnischer Juden aus dem Deutschen Reich 1938/1939 und ihre Überlieferung

1. Die Zwangsausweisung nach Polen im Oktober 1938
2. Die Quellenlage bei der namentlichen Ermittlung der Betroffenen
3. Das Schicksal der nach Bentschen Abgeschobenen

Die Quellenlage bei der namentlichen Ermittlung der Betroffenen

Einen ersten Schritt zur namentlichen Ermittlung der Betroffenen hat das Bundesarchiv bereits während der Arbeit am Gedenkbuch und der Liste der ehemaligen jüdischen Einwohner des Deutschen Reiches 1933-1945 durch die Auswertung unterschiedlichster Quellen getan. Hierzu zählten vor allem die vielen verschiedenen Gedenkbücher für die Opfer der Massenvernichtung aus einzelnen Städten und Regionen oder Mitteilungen von Organisationen, anderen Archiven sowie von Privatpersonen, in denen sich Angaben zu Opfern der „Polenaktion“ finden ließen.

Eine der umfangreichsten Quellen, die besondere Aufmerksamkeit verlangte, ist die beim Internationalen Suchdienst in Bad Arolsen aufbewahrte Namenliste mit Opfern der „Polenaktion“, die über Bentschen abgeschoben wurden.[2] In der Datenbank wurde ihr Schicksal im Feld Abschiebung mit dem Datum „28.10.1938“ und dem Zielort „Bentschen (Zbaszyn)“ angegeben, sofern durch ergänzende Quellen kein abweichendes Abschiebedatum ermittelt werden konnte.[3]

Für die anderen Grenzübergänge lagen keine vergleichbaren Quellen vor, da die polnischen Grenzbehörden vor Ort unterschiedlich agierten. Wurde in Bentschen der Versuch unternommen, die abgeschobenen Personen zu internieren und zu registrieren, konnten sie andernorts zumeist ungehindert weiterreisen, ohne namentlich erfasst zu werden. In der Datenbank findet sich das Schicksal derer, für die kein genauer Abschiebeort nachweisbar ist, mit dem allgemeinen Hinweis auf das Zielland „Polen“ im Feld Abschiebung wieder.

Anhand der verschiedenen genannten Quellen - neben der Bentschenliste vor allem Quellen mit regionalgeschichtlichem Hintergrund - konnte das Bundesarchiv inzwischen ca. 7.000 Personen ermitteln, die Ende Oktober 1938 von der Zwangsausweisung nach Polen betroffen waren.[4] Für ca. 4.800 von ihnen ließ sich der Ort Bentschen (Zbaszyn), der durch die weiteren Ereignisse in der Presse schon seinerzeit große Aufmerksamkeit erregte, als Grenzübergang nachweisen. Hier begann der Zustrom am Abend des 28. Oktobers 1938. Die deutsche Polizei trieb die Menschen über die Landstraßen oder entlang der Eisenbahngleise; später erreichten auch erste Züge den Grenzübergang. Zeitzeugen sprachen von chaotischen Zuständen. Mehrere tausend Menschen irrten im Niemandsland umher, drängten sich auf dem Bahngelände, hausten im Stationsgebäude oder auf nahe gelegenen Plätzen in der polnischen Grenzstadt Bentschen sowie auf den die Stadt umgebenden Wiesen. Dieses kam für die polnischen Behörden überraschend, so dass sie unter den gegebenen Umständen völlig überfordert waren.

Nachdem sich die polnischen Grenzposten darum bemüht hatten, die Ausgewiesenen zu registrieren bzw. ihre Pässe zu kontrollieren, konnten viele von ihnen innerhalb der ersten zwei Tage in das Landesinnere weiterreisen. Diejenigen allerdings, die nicht wussten wohin und denen man die Einreise verweigerte, wurden in Bentschen interniert.

* [2] Bentschen-Liste, im Bundesarchiv: Bestand ZSg 138 Bd. 439 als Ausdruck einer manuellen Erfassung der Eingangslisten des polnischen Auffanglagers Zbaszyn/Bentschen im Internationalen Suchdienst (ISD) aus den 1960/70er Jahren für die 1. Auflage des Gedenkbuches.
* [3] Mit dem Suchbegriff „Bentschen (Zbaszyn)“ im Feld Abschiebung können in der Datenbank alle Personen recherchiert werden, die nachweislich in den polnischen Grenzort gebracht wurden. Als Abschiebedatum gilt der Tag, an dem die betreffende Person den Ausweisungsbefehl erhielt und von der Polizei mitgenommen bzw. verhaftet wurde. Viele mussten noch einen Tag in Gewahrsam verbringen oder kamen erst in eine andere Stadt, bevor man sie mit Sammeltransporten an die polnische Grenze brachte
* [4] Im Gedenkbuch sind nur diejenigen Personen aufgeführt, die die Verfolgung nicht überlebt haben bzw. deren weiteres Schicksal nach dem derzeitigen Kenntnisstand ungeklärt ist.
Die Abschiebung polnischer Juden aus dem Deutschen Reich 1938/1939 und ihre Überlieferung

1. Die Zwangsausweisung nach Polen im Oktober 1938
2. Die Quellenlage bei der namentlichen Ermittlung der Betroffenen
3. Das Schicksal der nach Bentschen Abgeschobenen

Das Schicksal der nach Bentschen Abgeschobenen

Bereits am 31. Oktober 1938 begann die polnische Polizei damit, die Stadt weiträumig abzusperren. Sie quartierte die Mehrzahl der Betroffenen in der alten Kaserne mit den dazugehörigen Ställen ein und erlaubte die Abreise fortan nur noch unter bestimmten Voraussetzungen. Diese waren erfüllt, wenn der Betroffene nachweisen konnte, dass er in Polen entweder bei Familienangehörigen bzw. Bekannten unterkommen würde oder entsprechende Papiere für eine bevorstehende Emigration besaß. Auch finden sich Fälle, in denen die Betroffenen kurzzeitig in das Deutsche Reich zurückkehren durften, um dort ihren Haushalt aufzulösen und ihre Vermögensverhältnisse zu klären. Im Anschluss daran wurden sie aber wieder nach Polen ausgewiesen.

Der Verbleib der in Bentschen internierten Menschen hing also von verschiedenen Faktoren ab. Konnten sie Bentschen nicht auf irgendeinem Wege vorzeitig verlassen, verblieben sie dort bis zur allmählichen Auflösung des Lagers im Sommer 1939. Für die davon Betroffenen lag dem Bundesarchiv eine Namenliste aus dem Archiv des American Joint Distribution Committee in New York vor.[5] In der Datenbank ist das Schicksal der dort verzeichneten Personen über das Feld Inhaftierung (Eintrag: „bis Sommer 1939 Bentschen (Zbaszyn), Internierungslager“) zu recherchieren.

Für einige der bisher durch das Bundesarchiv ermittelten Betroffenen der „Polenaktion“ ließ sich ein Emigrationsort ermitteln. Allerdings gelang es nicht jedem von ihnen, sich dem deutschen Zugriff auf Dauer zu entziehen. Viele holte der Krieg in den Niederlanden, Belgien oder Frankreich ein. Sie wurden von dort deportiert. Ähnlich erging es jenen, die aus verschiedenen Gründen in das Deutsche Reich zurückkehrten. Überlebten sie die Inhaftierung in Lagern wie Sachsenhausen, Dachau oder Buchenwald kamen auch sie in die Vernichtungslager, in das Ghetto Theresienstadt oder in ein Arbeitslager.

Die Spuren der nach ihrer Zwangsausweisung in Polen verbliebenen Juden verlieren sich zumeist in einem der unzähligen von den Deutschen dort errichteten Ghettos, wohin sie mit ihren Familienangehörigen oder Bekannten, bei denen sie einstmals Zuflucht fanden, deportiert wurden. Zu vielen Opfern der „Polenaktion“ allerdings lassen sich bis heute noch keine genauen Aussagen treffen. Ihre Schicksale bleiben nach dem derzeitigen Kenntnisstand ungewiss. Es ist nicht bekannt, ob sie deportiert wurden, emigrieren konnten oder den Krieg überhaupt überlebten.[6]

* [5] Namensliste der Juden, die im Sommer 1939 in Zbaszyn registriert wurden, hier Daten aus dem Archiv des American Jewish Joint Distribution Committee, New York.
* [6] Die Klärung der ungewissen Schicksale soll ein Teil der weiteren Arbeit am Gedenkbuch und an der Dokumentation der Judenverfolgung sein.